FdH – Es gibt sie wirklich

An zwei, drei Tagen in der Woche nehme ich den immer gleichen Zuge, zu der immer gleichen Zeit, um damit in die Stadt zu fahren. Auch wenn ich die Stadt praktisch nie verlassen habe, heißt das bei mir so. Dieses ich-fahre-in-die-stadt hat einen so mondänen Klang. Als ob man eine kleine Weltreise antreten würde, auf der jederzeit Abenteuer und aufregende Dinge passieren könnten. Der Konjunktiv ist eine merkwürdige grammatikalische Konstruktion, die Dinge beschreibt die möglich sind, doch trotzdem selten eintreffen. Deswegen sollten Politiker eigentlich die ganze Zeit so reden. Aber, das ist ein anderes Thema… Ich Sitze in dem immer gleichen Zug, zu der immer gleichen Zeit und sehe zwangsläufig die immer gleichen Leuten. Die meisten Menschen haben ihre kleinen Rituale, mit denen sie sich die Zugfahrt so angenehm wie möglich gestalten. Einige lesen Zeitung, andere hören Musik oder sie schauen einfach aus dem Fenster und hängen ihren Gedanken nach. Eine Mitreisende hat es mir besonders angetan. Nachdem sie sich auf ihren Platz gesetzt hat, holt sie aus ihrer Tasche eine kleine Brotbüchse hervor und entnimmt dieser eine Klappstuhle. Genüsslich beginnt sie zu essen. Bei exakt der Hälfte hört sie auf, öffnet ihre kleine Box, legt das Brot hinein und verstaut das Ganze wieder in ihrer Handtasche. Dieser wenige Minuten dauernde Vorgang ist höchst faszinierend für mich. Ich hätte es nie für möglich gehalten, das es solche Leute wirklich gibt. Ihre Existenz habe ich daher in das Reich der Mythen geschoben. Soviel Selbstdisziplin halte ich schlichtweg für unmenschlich. Friss die Hälfte – selbst wenn ich mir das ganz fest vorgenommen habe, kann ich das nicht. Es soll Menschen geben, die sich aus einer Pralinenschachtel nur eine Praline nehmen, die sich von einer Tafel Schokolade nur zwei Stückchen abbrechen, die nur einen halben Pudding essen und dann den Aluminiumdeckel wieder über die Öffnung friemeln. Wo leben diese Leute? Gibt es sie wirklich? Ich selbst gehöre ja eher zu der Spezies FdD – Friss das Doppelte! Schon seit meiner frühesten Kindheit musste ich von allem grundsätzlich zwei nehmen. Nimm zwei, das war mein Motto. Zwei Bonbons, zwei Fruchtzwerge, wo wir schon dabei sind, zwei Steaks… Egal wie groß, es musste immer das Doppelte sein. Vielleicht war das ein Grund warum ich auch das Doppelte war??? Mittlerweile bin ich Erwachsen und kann meine Gelüste kontrollieren. Doch noch immer neige ich dazu mehr zu nehmen, als freiwillig zu wenig. Die Genussmaximierung liegt dem Menschen mehr in den Genen, als die preußische Pflicht und Selbstdisziplin. Deswegen finde ich diese Frau, die ich so oft in der S-Bahn sehe, so faszinierend. Eines Tages werde ich all meinen Mut zusammennehmen und sie fragen, wie sie so geworden ist. Dann wird sie mir eine traurige Geschichte erzählen.



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